Lyrik vom Bodensee

Kategorie: Gedichte gegen Gewalt

“Wir hätten keinen Krieg führen dürfen“, sagte mein Großvater.

Vor 80 Jahren, genau am 4. Dezember 1944 wurde meine Heimatstadt Heilbronn zerstört. Eine Dokumentation findet sich im Stadtarchiv Heilbronn unter dem Titel „Chronik der Zerstörung Heilbronns am 4. Dezember 1944“.
Meine Mutter lebte damals bei ihren Eltern in Neckarsulm und erzählte, wie sie fassungslos ihre Nachbarstadt in Flammen aufgehen sahen und dass sie danach als 21Jährige in Todesangst zitternd zu ihren Eltern ins Bett kroch.

https://stadtarchiv.heilbronn.de >xyz> zerstoerung

Im März 1945 wurde dann Neckarsulm zerstört, und das Haus meiner Großeltern war auch ausgebombt. Alle Familienmitglieder kamen mit dem Leben davon, aber meine Großmutter weinte jedesmal, wenn sehr selten die Sprache darauf kam. „Wir haben alles verloren“, sagte sie dann und mein Großvater meinte: „Wir waren selber schuld. Wir hätten den Krieg nicht führen dürfen.“

Aus: A.Heyler Neckarsulm 1900-1950 Verlag Otto Welker Neckarsulm

In den 90iger Jahren sahen unsere Kinder immer wieder Bilder von Kriegsfolgen in der Zeitung und wollten mehr wissen. Aus dieser Zeit stammt das folgende Gedicht, das 2016 in dem Band Gedichte gegen Gewalt von Gisela Munz-Schmidt mit Bildern von Horst Müller bei Tredition veröffentlicht wurde.

Mein Kind

Mein Kind,
gib mir die Hand
und halt sie fest.
Es ist der Krieg,
der aus den harten Klauen
niemanden unversehrt entlässt.

Mein Kind,
gib mir die Hand,
sie hält dich warm.
Es ist die Rache und die Habgier und der Neid,
die führen des Krieges Arm.

Mein Kind,
gib mir die Hand,
die Welt ist kalt.
Kalt ist die Macht,
kalt ist das Geld.
Und eisig ist des Hasses Nacht.

Mein Kind,
gib mir die Hand.
Wir glauben, dass das Wunder nicht zerbricht.
Wir wollen widerstehen.
Wir suchen sanftes Licht.
Wir wollen langsam gehen.
Wir sterben nicht.

Gisela Munz-Schmidt

Zum Totensonntag

Es wurde nicht nur ein Friedhof geschändet.
Was dann?
Der Glaube.
Und sie zerstörten nicht nur Kreuze.
Was sonst?
Hoffnung.
Und es wurden nicht nur Steine beschmiert.
Was noch?
Wiedergutmachungsversuche.
Und es wurden nicht nur die Toten beleidigt.
Wer denn?
Ihre Angehörigen,
ihre Freunde,
die Erbauer der Gräber,
ihre Nachbarn
und überhaupt…

Wer überhaupt?

Du.
Ich.

Gisela Munz-Schmidt
Aus: Gedichte gegen Gewalt
mit Bildern von Horst Müller



 

Weitere Auszüge aus „Gedichte gegen Gewalt“ finden sich unter der Rubrik Themen .

Hoffnung auf Frieden

Ölgemälde von Rudolf Munz
1920 in Graz geboren,
2008 in Baden- Baden gestorben
Gedanken auf der Rheinbrücke nach Straßburg

En avant, vorwärts,
dein Großvater, mein Vater,
sie marschierten, Gleichschritt Marsch,
Bajonette gezückt, Panzer.
Über dem Rhein war der Feind.
Der Feind?

Ich kann es mir Gottseidank nicht mehr vorstellen.
Ich fahre über die Rheinbrücke.
Nur Vorfreude!
Auf die schöne Stadt.
Die strahlende Gotik.
Die elegante Sprache.
( Und auch meine Sprache ist schön,
auch meine Gotik stolz,
ich liebe auch meine Städte.)

Unser Rhein.
Eine unserer Lebensadern.

Einmal möchte ich mitten auf der Rheinbrücke anhalten und aussteigen.
Warten, bis alle Insassen der anderen Fahrzeuge auch mit mir am Geländer stehen,
Franzosen, Deutsche, Reisende aus aller Herren und Frauen Länder.
Mit ihnen gemeinsam glücklich den Flusslauf sehen,
erkennen und jubeln:
Weggeschwemmt endlich alles Blut!
Hier fließt lebendiges Wasser
durch Europa.

Gisela Munz- Schmidt
 
Kind der Erde

Meine Arme spann ich von der Taiga
bis an Frankreichs schöne Küste.
Meine Wurzeln treiben
unter all den vielen Inseln,
und am großen Himalaja
bette ich mein Haupt.

Afrika ist meine Wiege,
in die Anden komme ich am Abend,
und im weiten Reich der Mitte
liegt mein Kunstverstand.
Dort am Kap siehst du mich tanzen,
hörst mein Lachen tief in Georgia
und in Sydney gib mir deine Hand.

Ich bin ein Kind der großen Mutter Erde,
und alle ihre Kontinente sind mir gleich vertraut.

Und rot und schwarz und gelb und weiß und braun
ist meine Haut.

Gisela Munz-Schmidt
Aus: Gedichte gegen Gewalt

Children of the Earth

From the boreal Taiga to the rivers of France,

from Australia’ s reefs to the African dance,

from Asian heights to America’s plains,

from British gardens  to Caribbean canes,

from Egyptian Art to India’ s wonder,

from high Andean Mountains  to the oceans down under,

from the snows of a mighty Swiss mountain slope

to  the southern waters of the Cape of Good Hope,

from China’s Great Walls

to Victoria Falls –

We are living here, regardless of birth,

we all live as children of a wonderful Earth,

we all are humans, the next of kin,

with red, black, white, brown, yellow of skin.

Gisela Munz- Schmidt

Schlange und Taube

Mein Gefühl sandte ich aus 
wie eine Schlange,
die den Grund erspürt
gleitend
und meine Gedanken
wie eine Taube,
der am Himmel nichts entgeht,

und rief sie beide zurück:
„Was habt ihr erfahren, gesehen?“

“Gewalt und Grausamkeit und Blutgericht“,
die Schlange spricht.

Die Taube sagte:“Nein. Das sah ich nicht.
Bei Tag und in der Nacht sah ich ein großes Licht.“

Gisela Munz-Schmidt 
Aus: Gedichte gegen Gewalt




Rudolf Munz Friedenstaube ( Ausschnitt)
Die Taube

Und wieder steigst du auf
wie eine weiße Fahne
aus Meeren dunklen Bluts zerstückter Leiber
und schwebst.

Wie lange dieses Mal?

Doch eine wichtige Weile als ein Zeichen:

So könnte es,
wenn wir nur alle wollten,
für immer sein.

Gisela Munz-Schmidt
Aus: Gedichte gegen Gewalt

Gedichte gegen Gewalt

mit Bildern von Horst Müller

Im Verlag tredition und im Buchhandel erhältlich
Horst Müller Torso Seite 8 Gedichte gegen Gewalt
Horst Müller Torso Seite18, Gedichte gegen Gewalt
Gisela Munz-Schmidt Seite 7, Gedichte gegen Gewalt
Anne Frank Zeichnung von Gunther Jauss, 1992 zu meinem Gedicht aus meiner Amsterdamer Elegie

Anne Frank

Und mich schmerzte

Anne Frank Anne Frank Anne Frank

wie wahnsinniges Weh einer Wunde,

die sich entzündet unter der Haut.

Und wie lange wie lange wie lange

dauerte es,

bis alles aufbrach,

und ich ihr in die dunklen Augen sehen konnte.

Anne Frank.

Gisela Munz-Schmidt

Aus: Amsterdamer Elegie

In: Gedichte gegen Gewalt

1977 wohnten mein Mann und ich einige Monate in der Emmalaan in Amsterdam, mein Mann hatte ein PostDoc Forschungsstipendium an der Universität erhalten, und ich war ein halbes Jahr beurlaubt. In dieser Zeit besuchte ich einige Male das Anne Frank Haus, und später las ich mit einigen Klassen das Tagebuch der Anne Frank als Schullektüre.

Gunther Jauss, der Architekt unseres Owinger Rathausneubaus, ließ sich durch meinen Text zu der Zeichnung inspirieren. Die eingefügte Bibelstelle bezieht sich auf die Klagelieder 5,5

Es kommt mir der Krieg

Es kommt mir der Krieg

zwischen meinen Alltag.

Die zerbombte Brücke

bricht über meine Schüssel,

und das blutende Kind

weint mir aus dem Teller.

Meine Hände sind weiß

und meine Finger bleich.

Unschuld?

Entsetzen.

Gisela Munz-Schmidt

aus : Gedichte gegen Gewalt, Seite 12

Horst Müller Elegie
In : Gedichte gegen Gewalt, Seite 15
Gisela Munz-Schmidt
in Gedichte gegen Gewalt, Seite 14