Es wurde nicht nur ein Friedhof geschändet.
Was dann?
Der Glaube.
Und sie zerstörten nicht nur Kreuze.
Was sonst?
Hoffnung.
Und es wurden nicht nur Steine beschmiert.
Was noch?
Wiedergutmachungsversuche.
Und es wurden nicht nur die Toten beleidigt.
Wer denn?
Ihre Angehörigen,
ihre Freunde,
die Erbauer der Gräber,
ihre Nachbarn
und überhaupt…
Wer überhaupt?
Du.
Ich.
Gisela Munz-Schmidt
Aus: Gedichte gegen Gewalt
mit Bildern von Horst Müller
Weitere Auszüge aus „Gedichte gegen Gewalt“ finden sich unter der Rubrik Themen .
Gedanken auf der Rheinbrücke nach Straßburg
En avant, vorwärts,
dein Großvater, mein Vater,
sie marschierten, Gleichschritt Marsch,
Bajonette gezückt, Panzer.
Über dem Rhein war der Feind.
Der Feind?
Ich kann es mir Gottseidank nicht mehr vorstellen.
Ich fahre über die Rheinbrücke.
Nur Vorfreude!
Auf die schöne Stadt.
Die strahlende Gotik.
Die elegante Sprache.
( Und auch meine Sprache ist schön,
auch meine Gotik stolz,
ich liebe auch meine Städte.)
Unser Rhein.
Eine unserer Lebensadern.
Einmal möchte ich mitten auf der Rheinbrücke anhalten und aussteigen.
Warten, bis alle Insassen der anderen Fahrzeuge auch mit mir am Geländer stehen,
Franzosen, Deutsche, Reisende aus aller Herren und Frauen Länder.
Mit ihnen gemeinsam glücklich den Flusslauf sehen,
erkennen und jubeln:
Weggeschwemmt endlich alles Blut!
Hier fließt lebendiges Wasser
durch Europa.
Gisela Munz- Schmidt
Kind der Erde
Meine Arme spann ich von der Taiga
bis an Frankreichs schöne Küste.
Meine Wurzeln treiben
unter all den vielen Inseln,
und am großen Himalaja
bette ich mein Haupt.
Afrika ist meine Wiege,
in die Anden komme ich am Abend,
und im weiten Reich der Mitte
liegt mein Kunstverstand.
Dort am Kap siehst du mich tanzen,
hörst mein Lachen tief in Georgia
und in Sydney gib mir deine Hand.
Ich bin ein Kind der großen Mutter Erde,
und alle ihre Kontinente sind mir gleich vertraut.
Und rot und schwarz und gelb und weiß und braun
ist meine Haut.
Gisela Munz-Schmidt
Aus: Gedichte gegen Gewalt
Children of the Earth
From the boreal Taiga to the rivers of France,
from Australia’ s reefs to the African dance,
from Asian heights to America’s plains,
from British gardens to Caribbean canes,
from Egyptian Art to India’ s wonder,
from high Andean Mountains to the oceans down under,
from the snows of a mighty Swiss mountain slope
to the southern waters of the Cape of Good Hope,
from China’s Great Walls
to Victoria Falls –
We are living here, regardless of birth,
we all live as children of a wonderful Earth,
we all are humans, the next of kin,
with red, black, white, brown, yellow of skin.
Gisela Munz- Schmidt
Schlange und Taube
Mein Gefühl sandte ich aus
wie eine Schlange,
die den Grund erspürt
gleitend
und meine Gedanken
wie eine Taube,
der am Himmel nichts entgeht,
und rief sie beide zurück:
„Was habt ihr erfahren, gesehen?“
“Gewalt und Grausamkeit und Blutgericht“,
die Schlange spricht.
Die Taube sagte:“Nein. Das sah ich nicht.
Bei Tag und in der Nacht sah ich ein großes Licht.“
Gisela Munz-Schmidt
Aus: Gedichte gegen Gewalt
Die Taube
Und wieder steigst du auf
wie eine weiße Fahne
aus Meeren dunklen Bluts zerstückter Leiber
und schwebst.
Wie lange dieses Mal?
Doch eine wichtige Weile als ein Zeichen:
So könnte es,
wenn wir nur alle wollten,
für immer sein.
Gisela Munz-Schmidt
Aus: Gedichte gegen Gewalt
1977 wohnten mein Mann und ich einige Monate in der Emmalaan in Amsterdam, mein Mann hatte ein PostDoc Forschungsstipendium an der Universität erhalten, und ich war ein halbes Jahr beurlaubt. In dieser Zeit besuchte ich einige Male das Anne Frank Haus, und später las ich mit einigen Klassen das Tagebuch der Anne Frank als Schullektüre.
Gunther Jauss, der Architekt unseres Owinger Rathausneubaus, ließ sich durch meinen Text zu der Zeichnung inspirieren. Die eingefügte Bibelstelle bezieht sich auf die Klagelieder 5,5