Lyrik vom Bodensee

Kategorie: Burgen und Sagen

Gedichte vom Bodensee : Die Haltnau-Sage von der buckligen und klugen Wendelgard

Die Haltnau bei Meersburg
Aquarell von Sibylle Buderath
Wendelgard von Halten

Die Haltnau-Sage erzählt uns genau
die Geschichte einer besonderen Frau.
Schlechtes und Gutes, Fluch und Segen
tat das Schicksal ihr in die Wiege legen.
Doch was es ihr auch hat gebracht,
sie hat das Beste daraus gemacht.

Erbin war sie von großem Besitz
direkt am See - und Mutterwitz
und ein klarer Verstand,
eine liebe Art, eine offene Hand,
das alles sprach man gern ihr zu.
Aber anderes ließ ihr keine Ruh:
Sie trug einen Höcker auf dem Rücken,
konnte schlecht gehen und kaum sich bücken,
war überdies auch im Gesicht 
wahrhaftig eine Schönheit nicht.
Sie hatte ein Schnäuzlein wie das eines Schweines,
ein Rüsselchen eben, wenn auch ein kleines.
Je älter sie wurde, je mehr offenbar
warn die Mängel, und sie ihrer gewahr.
Es ließ auch das Höhnen und Spotten nicht nach.
So seufzte sie häufig:“O weh und o ach!“
und weinte in ihr Schüsselchen:
„Keiner gibt mir ein Küsselchen!“

Oft hat sie darüber nachgedacht,
die Tränen getrocknet: „Es wär doch gelacht,
wenn alles, selbst wenn ich mich schäme,
nicht doch ein glückliches Ende nähme!
Schließlich hinterlasse ich, wenn ich sterbe,
ein beachtlich großes Erbe!“
Also schritt sie energisch zur Tat
und ließ kommen den Meersburger Rat,
dem sie die Sache zur Sprache brachte 
und ausgeklügelt den Vorschlag machte:
Bis an ihr seliges Ende sollte
einer der Räte, so wie sie es wollte,
jeden Sonntag, nach dem Morgenkuchen,
zur Gesellschaft sie besuchen,
sie würden ausfahren und dinieren,
ubd danach noch gut soupieren,
und zum Abschied gäb‘s als Dank ein Küsselchen
auf das Wendelgardsche Rüsselchen.
So hätte sie wenigstens wöchentlich eben 
eine schöne Freude und etwas vom Leben.
Und wenn ihr Gott dann die Lider schließe
erbe Meersburg alles, Weinberg und Wiese.

Aber der Rat tat sich gerieren,
die Räte sich genieren und zieren,
und sie gaben hochnäsig abschlägig Bescheid 
und sagten nicht einmal: „Es tut uns leid.“

Jungfer Wendelgard ließ sich‘s nicht verdrießen 
und kam zu folgendem Beschließen:
Wenn der Nachbar gar nicht will zur Linken,
werde ich über den Bodensee winken,
vielleicht geht Konstanz den Handel ein
und will der Haltnau Besitzer sein?
Sie trug ihr Erbe Konstanz an,
und die Räte, Mann um Mann,
kamen , ohne zu murren oder zu fluchen,
tapfer zum sonntäglichen Besuchen.
Sie standen pflichtschuldig durch das Programm,
und als dieses jeweils zu Ende kam,
gab‘s noch zum Schluss auf‘s Rüsselchen 
ein beherztes Küsselchen.
So ging es Woche um Woche, Jahr um Jahr,
und als Wendelgard betagt gestorben war,
fielen Wiese und Weinberg und Ross und Kuh,
fiel alles den wackeren Konstanzern zu.

Konstanz hat Mitleid und Weitblick bewiesen,
und wir können die Haltnau noch heute genießen.

Gisela Munz-Schmidt 

Quellen: Gedenktafel am Weingut Haltnau und Theodor Lachmann, Sagen und Bräuche am Überlinger See, Weißenhorn, 1972

🥨 Ein Bäcker aus Bad Urach erfand die Brezel

Hierzulande begleiten die Brezeln ein Leben.
Sie werden schon kleinen Kindern gegeben,
spätestens dann, wenn sie greinen und zahnen.
Man gibt sie später noch zahnlosen Ahnen.
Dazwischen zu jeder Gelegenheit,
zur Morgen- und zur Abendzeit.
Die Brezel ist von früh bis spät
eine köstliche Spezialität!
Gebuttert oder ungebuttert,
ein jeder gerne die Brezel futtert,
zu Milch, zu Most und zum Kaffee,
zu Wein, zu Sekt, zu Saft und Tee,
und manche sind so auf die Brezeln versessen,
dass sie sogar Weißwürste mit Brezeln essen!
Rösch, braun und salzig über der Lauge,
zu jedem Imbiss die Brezel tauge,
bei der sich das Weiche mit dem Harten
auf wirklich gelungene Weise paarten.

Kulturelles Urgestein?
Nein und nein und nochmals nein!
Die Brezel, die wir uns lassen munden,
wurde in hoher Not erfunden.

In Bad Urach lebte ein Bäckersmann,
der eine Untat hatte getan.
Man hatte ihn bekommen zu fassen,
und er sollte nun sein Leben lassen.
Doch weil´s einen Unbescholtenen traf,
hatte Mitleid der Richter, ein alter Graf,
und sprach zu ihm: “Du kannst noch hoffen,
ich lasse dir einen Ausweg offen,
entweder bist du morgen tot,
oder du bäckst mir noch heute ein Brot,
durch das die Sonne dreimal scheint,
dann bist du frei mit den Deinen vereint.“

Der Bäcker, der seinen Frevel bereute,
ging schnell ans Werk, keine Mühe er scheute,
aber es wollte ihm nicht gelingen,
ein solches Kunstwerk fertig zu bringen.
Da nahm er vom Brotteig ein kleineres Stück,
rollte den Teig hin und wieder zurück
mit bebendem Herzen und angst und bange
dachte er an den Teufel, die Schlange,
die ihn vom Galgenseil würde trennen
und ließe ihn in der Hölle brennen.
Da erschrak er bis in sein Inneres hinein,
schlug die Enden im Zeichen des Kreuzes ein,
während er an die Erlösung dachte.
Ein kleines Wunder war, was er da machte!
Er buk´s, und als er´s hob, siehe da!
Die Sonne er dreifach scheinen sah.

Da war auch für den Grafen klar,
dass der Bäcker dadurch gerettet war.

So wurde in todesschweren Stunden
in Bad Urach die erste Brezel erfunden.

Gisela Munz-Schmidt

Nach Ines Heim, Sagen von der Schwäbischen Alb,
Karlsruhe, 1992

Anmerkung:

Bad Urach die Ehre, so ist´ s guter Brauch,

doch anderswo schmecken Brezeln auch!

Der Bäcker Mayer, Seestraße 8,

hat schon immer die besten Brezeln gemacht!

Gedichte vom Bodensee: Ungeheuerliches in Überlingen : Die Frau und der Löwe

Überlingen Bild von Horst Müller

Eine Überlinger Sage:

Die Frau und der Löwe

Zu Staub zerfällt die Welt.
Ins Grab
geht alles Leben hinab.
So lautet das Gesetz.

Doch gibt es Kräfte,  die dem widerstehen.
Erinnerung ist eine solche Spur vom Einst ins Jetzt,
und auch das Wort erhält.
Gegen das Fallen und Verlieren steht Liebe auf und überwindet.

Beim Tor lebt‘ eine Frau,
die hatte nur ein einziges Kind,
das liebte sie so sehr,
dass andere sagten,
sie wär‘ vor Liebe blind.
( Wir wissen wohl, wie Liebe blendet,
doch auch, dass sie erkennt.)
Jedoch so kurzen Blicks, wie oft die Leute sind,
wollten sie diese Ansicht gar nicht gelten lassen.
Da irrte eines Tages durch die Straßen und die Gassen
von Überlingen ein Löwe.
Woher? Wohin? Kein Mensch hat‘s je gewusst!
Er lief geradewegs zum Hause jener Frau
und nahm mit großem Maul das vielgeliebte Kind,
als sei es Löwenfutter,
von ihrer Brust.
Die Mutter,
ganz außer sich und offenen Haares,
entriss es ihm.
Da war‘s gerettet,
und der Löwe, vom Löwenmut der Frau geschlagen,
zog knurrend ab mit leerem Magen
und ward nie mehr gesehen.

Den Löwenkopf ließ jene Frau
aus Stein als Angedenken hauen
und diesen Stein ins Haus einbauen.

Das Haus verfiel, ein Spiel der Zeit,
der Löwenkopf, er wurde abgenommen,
ist aber später dann verkommen,
der Stein zu Sand und Staub zerfallen.

Das Wort, das Lied, nimmt Sand und Staub
und macht daraus den Stein, der ewig hält.
Darum wird allen Leuten die Sage von der tapferen Frau erzählt.

Ich glaube wohl, sie soll bedeuten:
Selbst wenn es starke Gegenmächte gibt,
wachsen dem Menschen Kräfte,
wenn er liebt.

Gisela Munz Schmidt
Aus:
Sagenhaftes Überlingen 
Owingen Salem Heiligenberg
( Quelle: Theodor Lachmann, 
Sagen und Bräuche am Überlinger See)

Erhältlich im Städtischen Museum Überlingen





Horst Müller Überlingen
Skizze, Lavierte Tusche
Horst Müller Überlingen , am Mantelhafen
Skizze , Lavierte Tusche

DIE BURG





Ölgemälde von Rudolf Munz
2000
Die Burg

Sagenumwoben 
sei die Burg,
so sagten sie, droben.

Wir stiegen hinauf, wo andere ritten,
umarmten einander, wo andere stritten,
scherzten da, wo andere litten,
inmitten der Mauern,
die fallen und dauern.
Falter flattern ums Gesicht,
Eidechsen huschen auf Steinesbänder,
weit blendende Sicht über Hügel und Berge und Länder,
auf Eisengeländer 
zerfallende Ränder,
vergessenes Rauschen ferner Gewänder.
Ein lautes Lied 
vom hohen Fried,
neben eingewachsenem Fries
Rüstungen, Ketten, Harnisch und Spieß,
Klagen aus Schutt und Verlies,
dazwischen Efeu, Ehrenpreis,  Rosen, Klee,
verklungenes Wimmern und Jammern
auf Stiegen, in Sälen, in Küchen und Kammern,
im Palas des Troubadouren Gedicht
von Neigung und Pflicht,
Dienst, Mut und Minne,
Krieg, Niederlage und Sieg -
Wir hielten inne,
verstanden den Pfad der eilenden Spinne,
begriffen Jubel und Weh:
belagern, erobern,
hungern und essen,
hauen und kosen,
streiten und raufen,
feiern und saufen,
stöhnen und röcheln und schnaufen,
liegen, stehen, reiten, sitzen,
frieren und schwitzen,
alleine und miteinander schlafen, 
loben, lachen, lieben, hassen, strafen
in allen Farben, schwarz und weiß -
tiefer Schacht,
Tag, Nacht,
Macht, Ohnmacht,
frei und gefangen,
Hoffen und Bangen,
Lohn, Hohn und Gericht,
das Rad und der ewige Kreis.

In jeglichem Reich
sind so alle Burgen.
So oder ähnlich und gleich.

Gisela Munz-Schmidt





Ich bin im Neckartal aufgewachsen und habe von Kindheit an Burgen als eigene besondere Welten erlebt. Inzwischen habe ich viele Burgen und Schlösser besucht und besichtigt, zwischen Verfall und Erhalt, und nie kann ich mich der Atmosphäre entziehen, die solche Schauplätze der Vergangenheit und Gegenwart darstellen.

Im Eigenverlag – und mit Unterstützung des Landkreises Bodenseekreis – habe ich zwei Hefte herausgegeben, die Sagengedichte aus unserer Region enthalten.

Da sie sich im Inhalt auf die Sammlung „ Sagen und Bräuche am Überlinger See“ von Theodor Lachmann beziehen, sind sie auch im Überlinger Museum erhältlich.

Der Medizinalrat Theodor Lachmann hatte seit 1870 eine Sammlung von Altertümern zur Überlinger Geschichte angelegt, die den Grundstock des städtischen Museums bildete, das 1913 von Victor Mezger im Reichlin-von-Meldegg-Haus eingerichtet wurde.

Ein Besuch des Museums lohnt sich!

“Kulturhistorisches Museum mit historischen Räumen, Kapelle, Kunst, Relikten und Garten mit Seeblick“





Titelbild: Stahlstich von Corradi
“Gallerthurm in Überlingen“
Titelbild: Steindruck von I.A.Pecht
„Die alte Felskapelle St. Catarina bey Überlingen“
Aus dem Katalog: Überlinger Variationen, 1992